Die Figur hat eine schwere Entscheidung zu treffen: Sie steht an einer Weggabelung und muss nun wählen – geht sie nach rechts oder links? Sicher rechts. Oder vielleicht doch nicht… Nein, rechts. Und zum Schluss dann doch links. Also rechts. (Im letzten Moment umentschieden.)

Manchmal scheint die Figur diese Entscheidung ganz von selbst zu treffen: Wir schreiben ihr einen Weg vor und dann … [hier passiert etwas, das niemand in Worte fassen kann] … plötzlich geschieht etwas völlig anderes:
Die Handlung gerät aus dem Ruder, der Charakter verändert sich, andere Figuren rücken in den Mittelpunkt – und schon ist aus einer seichten Liebesgeschichte ein Krimi geworden.
Ganz plötzlich.

Ich bin immer erstaunt, wie solche Geschichten von vorn bis hinten wirklich funktionieren können, wenn sich mitten im Schreibprozess mit einem Mal alles ändert.

Das Ziel, das wir verfolgten, als wir den ersten Satz geschrieben haben, haben wir nicht erreicht.
Ist der bisherige Teil unserer Geschichte so austauschbar, dass er einfach an eine völlig andere Handlung angeknüpft werden kann? So plötzlich?

Ich bezweifle, dass Geschichten, die eine drastische Wendung im eigenen Entstehungsprozess vollziehen, wirklich konsistent sind. Mir scheinen sie lediglich von dem abzudriften, was sie eigentlich erreichen wollten.

Letztlich heißt das doch nur, dass sich der Autor im Moment des Schreibens für eine andere Geschichte entschieden hat. Dann sollten es aber zwei verschiedene Geschichten sein.

Denn: Im Endeffekt ist alles, was die Figur tut, unsere Entscheidung, dass sie dies tut.

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6 Antworten auf „Und plötzlich ein Krimi!

  1. Vielleicht ist aber auch die Figur so lebendig geworden, dass sich das Ganze verselbstständigt hat. Zum gleichen Thema habe ich gerade in Dostojewskis Tagebuch gelesen. Mir scheint, er findet das gar nicht so schlecht, wenn wir uns nicht alles im Vorhinein überlegen und so der Figur Raum zum Entfalten geben. Die wächst ja häufig auch mit den Seitenzahlen. Wer jedoch so vom Detail ins Große und nicht vom Ganzen ins Kleine, die einzelnen Zeile oder Seite, schreibt, verliert mitunter schnell den Überblick oder muss nachher mehr redigieren. Doch manchmal macht es Sinn, der Figur an einer Weggabelung in eine andere Richtung zu folgen … Wer weiß, welches Abenteuer uns dort erwartet?

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    1. Einen gewissen „Freiraum“ haben die Figuren sicher immer. Manche Dinge entscheidet man eben erst im Prozess des Schreibens. Die Frage ist, inwieweit man von „Verselbstständigen“ die Rede sein kann, wenn letzten des Endes doch der Autor federführend ist? ;)

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      1. Stream of consciousness and all that. Let your thoughts run wild. Meist passiert sowas unter Deadline-Druck. Wahrscheinlich weil man selbst für die Geschichte noch nicht richtig reif war bzw. der Geschichte nicht genug Zeit oder Raum im Kopf zum Wachsen gegeben hat. Find das aber nicht immer schlimm. Dostojewski soll „Der Idiot“ in 28 Tagen geschrieben haben und da sind auch einige Fehler drin. Er selbst ist recht unzufrieden damit. Für mich ist es trotzdem oder gerade wegen der Makel eins meiner Lieblingsbücher. Umgekehrt glaube ich, keiner würde „sowas“ im Stil von Dostojewski heute noch publizieren … Leider?

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  2. Wenn sich die innerhalb einer Geschichte die Persönlichkeit des Hauptcharakters und das Genre (plötzlich) ändern, sogar ins Gegenteil drehen, finde ich das schwierig. Wozu soll das gut sein? Entwicklungen vollziehen sich meist langsam und sollten innerhalb einer Geschichte für den Leser nachvollziehbar sein.
    Mir fällt jetzt auf Anhieb nur eine Geschichte ein, die solch einen massiven Story-Twist vertragen hat: der Film „From Dusk Till Dawn“, in der ersten Hälfte Gangsterfilm/Roadmovie, im zweiten Teil Vampir-Splatterfilm. Die Charaktere verhalten sich allerdings konsistent, unterliegen nur vereinzelt einer leicht nachvollziehbaren Entwicklung.

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    1. Ich habe interessanterweise in letzter Zeit öfter „Klein-Autoren“ im Internet getroffen, die genau das berichtet haben: Angefangen und dann wo ganz anders herausgekommen. Und das halt unter dem Slogan „Die Figur hat sich verselbstständigt“…

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  3. Glaube ich gerne, aber ich denke auch das ist ein Unterschied, ob es während sich während des kreativen Schaffensprozesses entwickelt oder ob es dann für die Endfassung so bleibt. Ich würde dann wohl eher 2 unterschiedliche Geschichten daraus machen, oder den ersten Teil im Nachhinein dem weiterentwickelten 2. Teil anpassen. Aber… das obliegt jedem selbst und ich würde niemals behaupten, dass auf eine andere Art daran zu gehen, nicht was viel besseres entstehen kann. :-)

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