Ich versuche, mir freihändig die Zähne zu putzen, während ich hektisch meine Seminarunterlagen und ein gleiches Paar Socken zusammensuche. Entweder sind sie in der Couchritze oder unterm Bett. Also die Unterlagen.
Als der Wasserkocher pfeift, kann ich mich dann ewig nicht entscheiden: Cappuccino oder Latte Macchiato? Nachdem ich mich auf Schwarztee festgelegt habe, schaue ich auf die Uhr und bekomme einen Schreck.
„Ich hab den Herd ausgemacht, oder?“, frage ich mich, als ich die Haustür zuziehe. Ich halte inne. „Doch!“, sage ich mir dann. Oder doch nicht? In dem Moment sehe ich, wie meine Bahn an mir vorbeifährt. „Mist!“, rufe ich aus. Gehe ich nun zu Fuß oder warte ich auf den Bus?
Ich rufe meine Freundin an.
„Hältst du mir einen Platz frei?“, frage ich leicht panisch.
„Du hast doch nicht etwa vergessen, dass die Sitzung heute ausfällt, oder?“
Nein, hierbei handelt es sich nicht um meine tägliche Morgenroutine. Vielmehr soll dieser Textauszug das natürliche Vorkommen des Wörtchens „oder“ demonstrieren.
Diese Konjunktion hat in der deutschen Sprache eine Vielzahl von Funktionen. Es kann eine oder mehrere Möglichkeiten einer Tatsache (in der Couchritze oder unterm Bett) oder einer Wahl (Cappuccino oder Latte Macchiato) ausdrücken. Es stellt eine vorangegangene Aussage in Frage (den Herd ausgemacht, oder?) und verdeutlicht eine mögliche Konsequenz (oder ich komme zu spät). Zudem ist es Merkmal rhetorischer Fragen (wie jene meiner Freundin).
Das klingt alles schrecklich verkopft und kompliziert? Stimmt.
Als Muttersprachler benutzen wir das Wörtchen intuitiv richtig. Aber nicht an jeder Stelle passt es auch wirklich hin. Bestimmte Ausdrücke mit „oder“ sind vielleicht umgangssprachlich typisch, bieten sich aber im schriftlichen Gebrauch nicht an. Besonders, wenn nicht Fakten und Dinge, sondern Formulierungen damit zur Auswahl gestellt werden. Das wirkt aufgesetzt und unterbricht den Lesefluss. Häufig führt dies dazu, dass der Autor (nicht der Erzähler!*) unzuverlässig und unschlüssig wirkt. Konnte er sich nicht auf eine konkrete Formulierung festlegen?
So zum Beispiel beim Gebrauch von Hilfsverben:
Darum gibt es viele, die seinetwegen in die Bredouille gekommen waren oder sind.
Liegen die Handlungen nun in der abgeschlossenen Vergangenheit (Plusquamperfekt gekommen waren) oder begannen sie in der Vergangenheit und finden immer noch statt (Perfekt gekommen sind)? Der Autor sollte stets wissen, welche Zeitform gerade angemessen für die Erzählung ist.
Ähnlich verhält es sich bei der Verwendung von Substantiven:
Zunächst sicherte er das Handy als mögliches Beweisstück oder Indiz.
Beweisstück und Indiz bezeichnen dieselbe Sache. Scheinbar konnte sich der Autor nicht festlegen, welchen der beiden Begriffe er verwenden wollte.
„Oder“ in Kombination mit Adjektiven bringt meist zwei unterschiedliche Aspekte eines Sachverhaltes zum Ausdruck (ein freundlicher oder strenger Lehrer = zwei verschiedene Typen von Lehrern). Das kann jedoch nicht auf eine einzelne Person oder eine konkrete Situation angewendet werden:
Es war ungewöhnlich, dass eine in der Familie relativ unbeliebte oder zwiespältig betrachtete Person auf so vielen Fotos vorkam.
Ist die Person nun unbeliebt oder wird sie zwiespältig betrachtet? Oder gar beides?
Also lieber vorsichtiger solche Formulierungen einsetzen. Oder eben gar nicht.
Eure Alex
*ein unzuverlässiger oder unschlüssiger Erzähler ist vom Autor beabsichtigt; es handelt sich um einen explizit gewählten Stil mit entsprechenden Ausdrucksformen.
Photo by Pixabay
Sehr interessant geschrieben. Du solltest wirklich, davon bin ich immer wieder überzeugt, eine Art Sachbuch daraus machen.
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Das wäre mir viel zu aufwendig^^ aber es freut mich, dass du dieser Meinung bist :)
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»Ich versuche, mir freihändig die Zähne zu putzen, während ich hektisch meine Seminarunterlagen und ein gleiches Paar Socken zusammensuche. «
Was sind die Beweggründe für dieses Tun?
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Ich stelle damit dar, dass die Ich-Erzählerin am Morgen unter Zeitdruck steht. (Zähne putzen = typische Handlung am Morgen; mehrere Dinge gleichzeitig tun = keine Zeit haben).
Wie weiter unten geschrieben, ist dieser Text ausgedacht und hat nichts mit einem Morgen in meinem Leben zu tun. Ich stehe immer pünktlich auf und bin ein durchweg ordentlicher Mensch ;)
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Mein Linguistenherz hüpft vor Freude, wenn es Beiträge über sprachliche Eigenheiten sieht, und seien es „nur“ Tipps für besseren Ausdruck (ich bin da genügsam: einmal nur das Wort „Konjunktion“ in einem Satz angewendet, und ich bekomme leuchtende Augen). Dann überkommt mich immer ein wenig die Motivation, mich selber wieder mehr über linguistische Themen herzumachen …
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Haha, ich hatte erst gedacht, dass das Thema viel zu speziell ist und sowieso niemanden interessiert, aber es gab doch eine ganze Menge Stellungnahmen inzwischen ;)
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„Darum gibt es viele, die seinetwegen in die Bredouille gekommen waren oder sind.“ Das „oder“ halte ich hier für nicht ganz falsch. Beim Lesen dieser Passage hatte ich dadurch zwei verschiedene Personengruppen im Kopf (die, die in der Vergangenheit in der Bredouille waren, und die, die es aktuell sind). Das „oder“ macht es für mich wie einen nachträglichen Einfall des Erzählers (wie „oder sogar noch sind“). Aber man müsste den Gesamttext kennen, um einzuordnen, ob hier ein vom Autor abgrenzbarer Erzähler spricht (mit passendem Ton).
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Ja, man könnte es auch „richtig lesen wollen“, aber etwas komisch klingt die Formulierung schon (sie ist nicht von mir, sondern aus einem Manuskript, das ich lektoriert habe). Deine Deutung müsste dann sprachlich auch entsprechend dargestellt werden wie durch „oder sind es sogar noch“. Es klingt in jedem Fall etwas gestelzt in meinen Ohren…
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Über diese Thema habe ich noch nie nachgedacht, aber es ist tatsächlich sehr interessant. Wenn man mal darauf achtet, fallen einem wirklich hier und da „Fehler“ ins Auge 😅
Wie immer ein toller Beitrag!
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Danke dir :) ich war ja eher skeptisch, wie so ein Randthema aufgenommen wird, aber es freut mich, dass es doch ein paar interessiert^^
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