Als unser Protagonist in den Zug stieg, setzte er sich neben einem älteren Mann, der interessanterweise vor vielen Jahren klassische Altertumswissenschaften mit einem Schwerpunkt auf mongolische Pokalschalen studiert hatte. Spontan kamen sie ins Gespräch und wie sich nach ein paar Belanglosigkeiten herausstellte, konnte der Mann den seltsamen Strichcode auf der Coladose entziffern, die unser Protagonist einen Tag zuvor auf der Straße gefunden hatte. Und als der Zug in Bielefeld hielt, entdeckte er just in dem Moment den Mann, der morgen im Schulhaus die Bombe zünden würde.

Zufälle passieren ständig. Der Fund eines fünfzig Euroscheins ist genauso zufällig wie die Verstrickung in einen Mordkomplott. Ersteres ist ein Grund zur Freude, letzteres ein guter Krimianfang. Im echten Leben jagt ein Zufall den anderen. In unserem Text auch. Natürlich könnte das alles so passiert sein. Möglich ist bekanntlich alles. Dennoch kann man wohl mit Fug und Recht sagen, dass das keine gute Geschichte ist.

Woran liegt das?

Zufälle werfen in Texten mehrere Probleme auf:

  • Sie wirken schnell unglaubwürdig.
    Ja, alles ist möglich, aber bei manchen Zufällen sagt sich der Leser schnell: Das gibt es doch gar nicht!
    Manche Zufälle sind eben doch zu zufällig. Hier kann es sinnvoll sein, eine Nebenfigur die noch notwendige Information zutragen zu lassen, als auf Biegen und Brechen alles den Protagonisten allein machen lassen zu wollen.
  • Sie wirken einfallslos.
    Gern wird dem Autor vorgeworfen, er hätte sich doch eine spannendere oder kompliziertere, aber in jedem Fall bessere Lösung für das Problem einfallen lassen können.
    Häufig steckt dahinter eine logische Lücke im Plot, die dann durch einen solchen Zufall gestopft werden soll. Besser ist es, die Szene nochmal über den Haufen zu werfen und nach einer stimmigeren Lösung zu suchen!
  • Sie drängen den Protagonisten in die Defensive.
    Der Held scheint in solchen Momenten nicht selbst zu handeln, sondern vom Schicksal geleitet zu werden. Das lässt ihn untätig und unselbstständig wirken.
    Ein Held nimmt sein Schicksal jedoch selbst in die Hand und findet eigene Lösungen für seine Probleme.
  • Sie machen den Text langweilig.
    Erst wurde in einem komplizierten Hin und Her der Spannungsbogen aufgebaut und nun ist die Lösung plötzlich so einfach? Der große Plottwist verpufft in einem einfallslosen Zufall. Da kommt keine Lesefreude auf.
    das kann passieren, wenn man sich bis zuletzt über die Lösung des Plots keine konkreten Gedanken gemacht hat. Die Story sollte jedoch von Anfang an auf ihren Höhenpunkt hinarbeiten. dazu ist es notwendig, diesen Höhepunkt auch zu kennen.

 

Ganz ohne Zufälle geht es nun aber auch nicht. Dabei muss man sich jedoch bewusst sein, dass dem Leser klar ist, dass jede noch so zufällige Bemerkung sich früher oder später in die Gesamthandlung einfügt. Eine zufällige Begegnung, eine zufällige Bemerkung, eine zufällige Beobachtung: Egal, was am Rande der Handlung Eingang in die Geschichte findet, wird zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufgegriffen. Das sollten sie zumindest, da sonst der Leser im Nachgang die Sinnigkeit dieser Szene in Frage stellen wird. Zufälle, die nur rein zufällig Erwähnung finden, sind überflüssig und werden in Geschichten vermieden.

Also, gibt es sie nun, die Zufälle in der Literatur oder ist doch alles in den Händen des schicksalwebenden Autors?

Alex

Photo by Pixabay

4 Antworten auf „In der Literatur gibt es keine Zufälle

  1. Ich mag Zufälle in Geschichten ja überhaupt nicht und versuche sie beim Schreiben möglichst zu vermeiden. Gerade sowas wie dein Beispiel oben ist natürlich der Extremfall, aber solche Sachen lese ich trotzdem hin und wieder und rolle dann nur mit den Augen.
    Was man aber klar sagen kann: Ganz ohne Zufall kommt wohl keine Geschichte aus, denn eigentlich beruht ja alles darauf. Der Beginn einer Geschichte ist ja meist schon ein Zufall, weil es ausgerechnet unsere Heldin trifft und sie in diese Geschichte hineingeworfen wird, obwohl es auch jeder andere hätte sein können. Am Anfang finde ich das nebenbei auch weit weniger schlimm, als am Ende. Da sollte man dann wirklich keine Zufälle mehr zulassen und zumindest so tun, als hätte man das alles irgendwie durchdacht.

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    1. Ja, das sehe ich auch so. In eine Handlung stolpert die Figur ja meistens irgendwie hinein.
      Tatsächlich finde ich aber auch bei namenhafteren Autoren manchmal Zufälle, von denen ich denke: Das muss dich jetzt nicht sein! Das kann für mich dann schon mal den Höhenpunkt der Story ganz schön kaputt machen.

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      1. Ja, ich finde das auch meistens grauenhaft. Ich glaube, das ist auch einfach so ein etabliertes Mittel, dass jeder mal nutzt, um mal schnell eine Szene zu beenden oder die Figuren neu zu positionieren. Vermutlich ist der Gedanke dahinter, dass man dadurch Zeit spart. Ich persönlich verflechte aber dann lieber alles und schreibe zur Not auch ein Kapitel mehr, damit es nicht zufällig wirkt. In deinem Beispiel würde ich zum Beispiel zumindest den Experten im Zug zuvor bereits seperat beleuchten und nicht einfach da mal eben reinwerfen. Dann gebe ich dem lieber auch eine Nebenhandlung, damit das nicht alles so aus der Luft gegriffen wirkt.

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  2. Hallo Alexandra, hallo Marcel,

    die Sache mit den Zufällen hat mich zum Nachdenken gebracht.
    Ja, als einfallsloser Ausweg aus einer Sackgasse manchmal zu offensichtlich.

    Aber, wie steht es mit den vom Autor gewollten Zufällen?
    Den Geschichten, die das Leben schrieb …

    Mich würde Eure Sicht auf die Zufälle interessieren, die der Company Pirate und ich hier verwandt haben:
    https://leanpub.com/kdz/c/peBVsOMs3UUn

    Zur Einordnung: ja, es ist gewollt, dass Frank hier wirkt wie ein Handtuch im Wind.
    Oder wie eine Kugel im Flipper.

    Das ist in etwa das Gefühl, was bei den Betroffenen vorherrscht, die Pate für die Figur und die Szenen standen.

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